(Jes 43, 16–21; Phil 3, 8–14; Joh 8, 1–11)
Liebe Schwestern und Brüder,
„Auf die Würde. Fertig. Los!“, so lautet also das Thema der Misereor-Fastenaktion und des heutigen Misereor-Sonntags. Und man muss nicht gleich in das Beispielland Sri Lanka gehen, um zu sehen, wie oft die Würde von Menschen verletzt und missachtet wird, auch hierzulande. Das mit der Würde ist ja leicht in Grundgesetze und auf Fahnen geschrieben. Es ist aber oft schwer, dies wirklich persönlich, gesellschaftlich, religiös und strukturell zu leben. Wie schnell setzt man Würde außer Kraft, wenn man sich nur einen Grund dafür zurechtlegen kann. Auch die Feindesliebe Jesu zielt darauf ab, selbst einem Feind seine Menschenwürde nicht abzusprechen und dann damit eigenes, würdeloses und unmenschliches Verhalten zu rechtfertigen.
Die Pharisäer und Schriftgelehrten im Evangelium benutzen die Frau, den Mann hatte man offensichtlich laufen lassen, um Jesus eine Falle zu stellen. Hier ist eindeutig ein heiliges Gesetz übertreten worden und muss, laut Gesetz, mit dem Tod bestraft werden. Wird sich Jesus gegen das Gesetz stellen?
Gott sei Dank, benützen sie die Frau, um Jesus auf die Probe zu stellen, denn ansonsten wäre sie vielleicht schon tot. Die Gesetzeslage ist klar: „Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen“ (Joh 8, 4f). Jesus geht auf die Gesetzesebene nicht ein, sondern fragt die Anwesenden, wer denn ohne Schuld sei? Das größte Wunder für mich in dieser Geschichte ist, dass einer nach dem anderen fortging, zuerst die Ältesten (V9). So ganz war ihnen offensichtlich die Selbsterkenntnis nicht abhandengekommen. Sie konnten sich noch ehrlich eingestehen, dass sie selber Barmherzigkeit nötig hatten. Das kann man sonst wahrlich nicht selbstverständlich erwarten. Darin sind diese Schriftgelehrten und Pharisäer uns ein Vorbild. Und diese Erkenntnis hat ihnen Jesus und die sog. „Ehebrecherin“ ermöglicht.
Das Gesetz hätte der Frau ihre Würde genommen. Damit wäre ihre Ermordung rechtmäßig gewesen. Dass auch Jesus die Frau nicht verurteilt, zeigt, dass Fakten allein nicht ausreichen, um die Komplexität von Leben beurteilen zu können. Jesus schenkt der Frau nicht nur eine Würde zurück, die man ihr schon abgesprochen hatte. Jesus tut das, was Gott schon in der 1. Lesung bei Jesaja sagt: „Denkt nicht mehr an das, was früher war; auf das, was vergangen ist, achtet nicht mehr! Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?“ (Jes 43, 18f)
Jesus schenkt im Namen Gottes einen Neuanfang, er nagelt im Namen Gottes nicht ewig auf Vergangenes fest. Und er lässt sich lieber selber fest- und annageln, als andere und zu Sündern erklärte, aus Gottes Liebe und Barmherzigkeit auszuschließen und sich dabei auf nichts anderes, als auf Gesetze zu berufen.
In konkreten Fällen können Gottes Liebe und Barmherzigkeit wirklich menschlich eine Zumutung sein. Aber Gott scheinen sie wichtiger zu sein, als sich nur, aus mangelnder Selbsterkenntnis, auf Vorurteile und Verurteilen zu beschränken, um möglicherweise seine eigenen Schatten nicht wahrnehmen und akzeptieren zu müssen. Komischerweise wird die Welt da menschlicher, wo Menschen ihr begrenztes Menschsein nicht vergessen.
Wir alle sehnen uns danach, barmherzig betrachtet und wertschätzend behandelt zu werden, auch da noch, wo vielleicht etwas gehörig schiefgegangen ist. Das gilt im übrigen auch im Rückblick auf unser persönliches Leben!
Glauben wir doch Gott und Jesus, dass wir nie die Würde unserer Gotteskindschaft verlieren. Und helfen wir tatkräftig mit, wo immer wir leben, dass niemand um seine Würde bangen muss.
Also: „Auf die Würde. Fertig. Los!“ Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)