(Jer 31, 7–9; Hebr 5, 1–6; Mk 10, 46b-52)
Liebe Schwestern und Brüder,
bei einer Taufe salbe ich dem Täufling die Sinne, damit er lernt, mit ihnen mehr als nur das Vordergründige wahrzunehmen. Vielleicht erahnt man auch das Geheimnis des Lebens, das in allem verborgen ist. Nicht umsonst steckt ja in dem Wort „Sinne“ das Wort „Sinn“. Denn danach fragen wir Menschen, suchen wir, manchmal manche auch ein Leben lang.
Ich stelle mir vor, dass der blinde Bettler Bartimäus aus dem Evangelium eine große Sehnsucht hatte, Sinn zu sehen, seine Sinne, in diesem Fall seine Augen, wieder gebrauchen zu können. Schon allein diesen Wunsch zu haben, zu spüren, dass einem irgendwie der Durchblick fehlt, ist der Beginn eines Heilungsprozesses. Bartimäus spürt auch, dass dieser Jesus von Nazaret ein Sehender ist und heilsame Worte sprechen kann. Er lässt sich von denen, die sich sehend dünken und doch blind sind, nicht das flehende Wort verbieten. Denn heute sagen die Leute dies und im nächsten Augenblick das Gegenteil. Diesen Mantel der Fremdbestimmung wirft Bartimäus zu recht weg und läuft blind auf Jesus zu. Manchmal hat die Sehnsucht Augen und ein Navi in sich, das auch zum Ziel führen kann.
Obwohl Jesus ja nicht blind ist und sieht, was Bartimäus fehlt, fragt er ihn trotzdem und ausdrücklich, was er möchte. Es ist wichtig, seine Sehnsucht ins Wort zu heben und nicht nur Opfer zu sein, sondern als Mensch ernstgenommen zu werden.
Was mich zum ersten Mal an dieser Stelle total überrascht hat, ist, dass Bartimäus Jesus mit dem aramäischen „Rabbuni“ anredet. Gewöhnlich sprachen die Menschen Jesus mit Rabbi an, was so viel wie Lehrer oder Meister bedeutet. Aber das Wort „Rabbuni“ gibt es nur noch einmal im Zweiten Testament, nämlich in der Ostergeschichte, wo Maria Magdalena Jesus mit „Rabbuni“ anredet (Joh 20, 16). Man könnte das vertraute Wort „Rabbuni“ mit „Meisterchen“ übersetzen, weil es eine innige Beziehung zum Ausdruck bringt. Bei Maria Magdalena ist das selbstverständlich vorausgesetzt. Aber Bartimäus? Wie kommt er dazu, dieses vertraute Wort zu benutzen? Kann es sein, dass er uns lehren will, dass wir uns mit großer Liebe und Innigkeit, mit unbedingtem Vertrauen an Jesus wenden können? Und dass diese Innigkeit zugleich heilsam für unsere Sinne ist? Jesus sagt dann ja auch: „Dein Glaube hat dich gerettet“ (Mk 10, 52), dein Vertrauen, deine Liebe. Kann es sein, dass wir erst mit der Brille der Liebe und liebevoller Beziehungen wirklich sehen lernen, auch Gott und Jesus?
Bartimäus jedenfalls folgt Jesus auf seinem Weg, weil dieser Weg auch Heilung und Sinn bedeutet. Nachfolge ist oft die Konsequenz einer Heilungserfahrung. Und genau das möchte man anderen auch zur Erfahrung werden lassen. Das sollte also auch am Sonntag der Weltmission der Sinn sein.
Nachfolge ist also nicht zuerst eine Frage der Lebensform, sondern eine Frage liebevoller Beziehung und Geisteshaltungen. Darum lasst uns wie Bartimäus rufen: „Rabbuni, wir möchten sehen können!“ Und vielleicht kommt es vor allem darauf an, dass wir „Rabbuni“ sagen und leben können. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)