(Lk 6, 27–38)
Liebe Schwestern und Brüder,
ich glaube, dass die meisten von uns die Worte des heutigen Evangeliums nicht ganz so wörtlich nehmen werden. Feinde lieben, die segnen, die uns verfluchen und beschimpfen, die andere Wange hinhalten, wenn man uns auf die eine schlägt, sich beklauen lassen und noch was dazugeben… Das alles klingt ziemlich verrückt und abgefahren und, mit Verlaub, kaum alltagstauglich. Und klar schaffen das die meisten Christen, dass sie diese Worte toll finden, dass sie eine Richtlinie sind, nach der wir uns orientieren können und so weiter und so fort. Aber wenn wir ehrlich sind, halten wir das alles nicht für lebbar, würden wir unseren Kindern nie solche Ratschläge geben und ignorieren tapfer und ohne Probleme den Anspruch dieser Worte. Das tun wir im Übrigen meistens auch mit dem Liebesgebot, das ja das Fundament für alle praktischen Anweisungen und alle christliche Moral sein soll. Natürlich gab und gibt es Leute, die sehr ernsthaft versucht haben und versuchen, aus diesem Geist zu leben. Aber das sind dann religiöse Profis, die das ja können müssen. Aber die Versuchung ist groß, sich diesen Geist zwar einzubilden, aber beide Augen großzügig zuzudrücken, wenn wir nicht aus ihm leben können. Vielleicht ist ja die ehrliche Problemanalyse wahrhaftiger und ein besserer, erster Schritt in die richtige Richtung, als Verdrängung und Selbstentschuldigungen, wenn wir offensichtlich ganz und gar unchristlich gehandelt haben. Wir können so nicht lieben und wissen, ehrlich gesagt nicht, wie das gehen soll. Eines allerdings glaube ich und erhoffe ich zutiefst, dass nämlich Gott so liebt. Zumindest hat er das in Jesus gezeigt und deutlich gemacht. Im 1. Johannesbrief, Kapitel 4, Vers 10, heißt es: „Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat!“ Dieser Gott ist wirklich so liebenswert verrückt, weil er uns entschuldigt, wo wir keine Ausflüchte mehr für unsere mangelnde Liebe haben. Dies ist kein Freibrief für liebloses Verhalten. Dies ist der lebenslang zu ertragende Stachel, dass wir die Liebe einander immer schuldig bleiben, wie es der hl. Paulus im Brief an die Römer schreibt: „Nur die Liebe schuldet ihr einander immer!“ (Röm 13, 8). Die Feld- bzw. Bergpredigt ist kein moralischer Befehl, den ohnehin fast keiner befolgt. Diese Predigt macht konkret, was Liebe tut, was Liebe meint. Gott jedenfalls liebt so, wir in der Regel nicht. Auch, wenn ich mich bemühe, das Geheimnis Gottes zu lieben, seiner Liebe irgendwie nachzueifern, so ist es fast nichts, was mir dann in der Praxis tatsächlich gelingt. Mir geht auf, wie sehr wir die tägliche Kraft Seines Geistes brauchen, der wirklich ein Beistand ist für all‘ unser Bemühen. Wir sind gut darin, Drohkulissen, Abschreckszenarien aufzubauen. Aber erste Schritte zur Deeskalation zu gehen im Sinne der Feldpredigt fällt uns ungemein schwer und wird als realitätsfremd abgetan. Irgendwie ahne ich, dass für jeden ganz persönlich diese Feldrede im Letzten Balsam für die Seele ist. Ich ahne, dass wir schon um unseretwillen lernen müssen, Eigenverantwortung wahrzunehmen und uns nicht mit dem herauszureden, was ja alle tun. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, ob es nervt oder nicht, weil am Ende immer das Gleiche gesagt werden muss. Aber die Konkretionen in der Feld- und Bergpredigt sind Beschreibungen dessen, wie Gott liebt und wie wir mit Gottes Hilfe lieben lernen sollen: um unseretwillen, um der anderen willen, um der Menschheit und Schöpfung willen, um Gottes willen. Dazu verhelfe uns Gottes Geist. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)