(Jos 5, 9a.10–12; 2 Kor 5, 17–21; Lk 15, 1–32)
Liebe Schwestern und Brüder,
es heißt heute am Beginn des Evangeliums: „In jener Zeit kamen alle Zöllner und Sünder“ zu Jesus, um ihn zu hören.“ (Lk 15, 1) Mit „Zöllnern und Sündern“ sind alle gemeint, die nicht religionsangepasst leben und moralischen Standards nicht entsprechen, zumindest jenen nicht, die sog. „Pharisäer und Schriftgelehrte“, also wirklich ernsthaft Religiöse, aufgestellt haben. Man sollte auch nicht vorschnell meinen, dass „Pharisäer und Schriftgelehrte“ keine guten Menschen seien und sind. Sie bemühen sich tatsächlich, ein anständiges, religiöses Leben zu führen und tun es auch. Dabei geraten sie aber leider häufig in eine Versuchung bzw. Falle, die Gott gar nicht gefällt. Sie verlassen sich nämlich zunehmend auf ihre religiöse Leistung und verlieren das, worauf Gott am Meisten wert legt: Liebe und Barmherzigkeit.
Ich frage mich, was die sog. „Zöllner und Sünder“ so an Jesus fasziniert hat, dass sie alle kamen, „um ihn zu hören“ (V1)? Welche „Zöllner und Sünder“ heute, also all‘ die Unangepassten und Ausgegrenzten, würden auf die Idee kommen, einen Papst, Bischof oder Pfarrer unbedingt hören zu wollen? Was war bei Jesus so anders, dass sie ihn alle hören wollten? Garantiert nicht das Thema „Verlorener Sohn“, wie das heutige Gleichnis trotz besseren Wissens immer noch in der neuen Einheitsübersetzung genannt wird. Denn Jesus erzählt dieses Gleichnis allen protestierenden „Pharisäern und Schriftgelehrten“ nicht, um von angeblich verlorenen Söhnen und Töchtern zu sprechen, sondern darum, wie weit weg sein Gottesbild und seine Gotteserfahrung von den ihrigen war und ist. Und leider gilt das in vielen Bereichen des Christentums noch bis heute. Erst, wenn die sog. „Zöllner und Sünder“ nicht mehr von uns wegrennen oder weggetrieben werden, sondern uns hören wollen und unsere Sprache gar verstehen, dann besteht Hoffnung, dass sich wirklich was in die richtige Richtung bewegt. Dann hätte sich Gott wieder befreit aus allen dogmatischen und moralischen Gefängnissen, in die man ihn so gerne einsperrt, um eigenen Traditionen folgen zu können und nicht dem Gottesbild Jesu, das so weit, so menschlich, so alle Grenzen sprengend ist, dass es immer wieder auch Angst macht, weil es so viel sicher Geglaubtes und Selbstverständliches in Frage stellt.
Wir müssen sehr viel mehr Verständnis für die Empörung der „Pharisäer und Schriftgelehrten“ haben, weil sie uns in der Praxis viel näher ist, als die Praxis Jesu. Diese macht mich immer wieder sehr froh, vor allem das Gottesbild, das Jesus in seinen Worten und Taten transportiert hat und transportiert.
Wenn heute in diesem Gleichnis, das Jesus erzählt, jemand verloren ist, dann ist es Gott selber. Denn weder der jüngere, noch der ältere Sohn haben auch nur annähernd begriffen, welch‘ unglaublicher Liebe sie im „barmherzigen Vater“ begegnet sind. Danken wir nun froh für diese Liebe und Barmherzigkeit des Vaters, auch wenn sie uns selber oft so fremd erscheint. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)