(Sir 27,30 – 28,7; Röm 14, 7–9; Mt 18, 21–35)
Liebe Schwestern und Brüder,
dass 1. Lesung und Evangelium einen Bezug zueinander haben, ist heute unschwer zu erkennen. Es geht um eine Form der Liebe, die uns unter Umständen viel abverlangt. Es geht um Vergebung. Dazu wäre so viel zu sagen und zu bedenken, dass es eigentlich den Rahmen einer Predigt sprengt. Es wird also, wie fast immer, vieles ungesagt bleiben.
Rufen wir uns zunächst in Erinnerung, dass Jesus Jude war und ganz aus dem Geist des 1. Testamentes gelebt hat. Jesus Sirach schneidet heute ein Thema an, das nicht erst Jesus von Nazareth auf seine Agenda gehoben hat. Schon im 1. Testament, also dem sog. „Alten Testament“, spielt das Erbarmen Gottes eine überragende und zentrale Rolle, das Jesus dann in besonderer Weise zur Mitte seiner Verkündigung und seines Tuns gemacht hat. Beide Texte sprechen ein Problem an, das wir Menschen mit Barmherzigkeit und Vergebung haben. Es gelingt uns nämlich oft nur sehr bruchstückhaft oder gar nicht. Nicht selten hängt es damit zusammen, dass man den zweiten vor dem ersten Schritt tun möchte und die Macht der Psychologie sträflich unterschätzt.
Bevor nämlich Vergebung möglich wird, muss ich den Schmerz und die Verletzung zur Kenntnis nehmen, die mir ein Unrecht zugefügt hat. Ich muss Gefühle von Zorn, Hass und Rache zunächst zulassen und darf sie nicht vorschnell im Unbewussten versenken. Damit ist nix bearbeitet und es wird mit Sicherheit ein Eigenleben führen und unser Tun und Lassen bestimmen.
Es kann sein, dass wir spüren, dass wir im Moment unfähig sind, zu vergeben. Ob uns dann hilft zu wissen, wie sehr wir selbst vergebungsbedürftig sind, sei dahingestellt. Zu bedenken ist auch, dass Vergebung nicht nur ein religiöses Gebot ist, sondern maximale Seelenhygiene. Denn wer ständig mit negativen Gefühlen herumrennt, verwüstet vor allem seine eigene Seele, für die er Verantwortung hat. Aber er wird auch allgemein unangenehm im Miteinander sein.
Wir müssen uns also zuallererst einmal selber vergeben, weil wir Vergebung so oft nicht hinbekommen. Nicht umsonst ist neben der Demut die Selbsterkenntnis eine der Grundlagen des religiösen wie spirituellen Lebens, mit Sicherheit auch für die seelische Gesundheit. Tatsächlich kann es der Beginn eines Vergebungsprozesses sein, wenn ich mir in aller Ehrlichkeit und Demut eingestehe, wie mangelhaft meine Vergebungsbereitschaft ist und wie sehr ich selber immer wieder der Vergebung und Barmherzigkeit bedarf. Das ist schon schwer genug und eigentlich ein Wunder. Viele KZ-Überlebende haben das in bewundernswerter Weise geschafft, all‘ das loszulassen, was sie nur selbst tödlich vergiftet hätte. Ihre Vergebung meint ja nicht, dass alles nicht so schlimm war. Nein, das war es! und es darf niemals relativiert werden, auch im privaten Bereich nicht. Ich muss nichts ent-schuldigen, was unentschuldbar ist. Vergeben heißt nicht, Schwamm drüber! Vergebung ist himmlisch geschenkte Größe und seelische Reife, nicht den gleichen Fehler zu machen wie die, die uns schon verletzt haben.
Vielleicht muss jeder auf seine Weise, in seinen Lebenszusammenhängen, zumindest versuchen, in diesem Sinne über Vergebung wenigstens nachzudenken. Das ist möglicherweise das tiefste Anliegen unserer biblischen Texte heute.
Möge Gott uns allen die Kraft geben, nicht nur Urteilende und Richtende zu sein, sondern auch jene, die um ihre Vergebungsbedürftigkeit wissen und statt sich nur ent-schuldigen zu wollen, wirklich um Verzeihung und Vergebung bitten können. Dann wird es uns vielleicht auch besser gelingen, Vergebung und Barmherzigkeit zu praktizieren. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)