(Ez 1, 28c‑2,5; 2 Kor 12, 7–10; Mk 6, 1b‑6)
Liebe Schwestern und Brüder,
wie ich schon in der Einführung zu diesem Gottesdienst andeutete, sind wir da, wo wir zu Hause sind, oft festgelegt. Viele kennen einen nach dreißig Jahren ziemlich gut, aber nicht so, dass dieses Kennen ausreicht, um einen Menschen ganz zu kennen. Vermutlich ist das auf Erden eh nicht möglich, sogar für einen selber nicht. Es kommt schon oft vor, dass Menschen mit diesem vermeintlichen „Wissen“ andere darin einsperren und ihnen sozusagen nicht erlauben, zu wachsen und sich weiterzuentwickeln, sich zu verändern. In Beziehungen ist das der Tod der Liebe. Manchmal spielt man auch seine Rolle, die erwartet wird, ganz gut und nimmt sich selber gefangen. Dann kann ein Ortswechsel eine Befreiung sein, eine Befreiung den Festlegungen anderer, aber auch von der eigenen Rolle, die man lebt.
Darum ermutige ich Jugendliche immer, z.B. nach der Schule, vielleicht ein soziales Jahr zu machen, weil man dann ganz anders gespiegelt wird und man sich selbst etwas neu „erfinden“ kann.
In den heutigen Texten sind Ezechiel, Paulus und Jesus auch Festgelegte und Gefangene der Erwartungen anderer. Aber sie sind auch Freie, weil sie sich nicht gefangen nehmen lassen. Und letztlich lässt man so oft auch Gott nicht einfach Gott sein und will ihm vorschreiben, wie er sich in dieser Welt zu verhalten hat. Ja, man hatte klare Vorstellungen davon, wie ein Messias und Prophet oder Apostel zu sein hat, wie sich Gott kundtut und wie man seine Nähe erfahren kann. In der katholischen Kirche wird oft einseitig betont, dass Gott in seinem Wort und in den Sakramenten erfahrbar wird. Aber da natürlich nicht nur. In jeder Liebe ist er erfahrbar, in jeder menschlichen Geste und auch in den Grenzen, die man selber hat und wofür heute der heilige Paulus ein besonderes Beispiel ist. Wie oft nimmt man auch an der Menschlichkeit und Schwäche von Menschen Anstoß, von denen man das nicht erwartet und nimmt sie nicht mehr ernst, weil sie eben nicht jenen Heldenvorstellungen entsprechen, die uns in Filmen und Büchern als am Ende immer siegreich und unverwundbar dargestellt werden.
Für alle aber, die im Namen und Auftrag Gottes unterwegs sind, ist Schwachheit eine Gnade, damit sie sich nicht am Ende mit Gott verwechseln, wie der heilige Paulus zu berichten weiß. Was haben wir manchmal für eine Angst davor, schwach zu sein und verletzlich. Dabei kann auch diese zugelassene Erfahrung nach Paulus ein Sakrament sein. Da kann die Kraft Christi erfahrbar werden, da ist plötzlich in der Schwachheit eine Stärke, die eine Gotteserfahrung ist.
Vielleicht scheint Gott uns manchmal so fern, weil wir seine Nähe und Wirksamkeit in unsere Erwartungen einsperren, weil sie uns zu menschlich und ungewohnt daherkommen. Wir sollten nicht daran Anstoß nehmen, sondern uns anstoßen lassen, Blickwinkel zu ändern und manche felsenfeste Standpunkte auch.
Mögen wir zu dieser Freiheit, die wir auch Gott schenken wollen, durch seinen Geist befreit werden. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)