(Am 7, 10–17; Eph 1, 3–14; Mk 6, 7–13)
Liebe Schwestern und Brüder,
ich denke, dass die biblischen Texte uns ja irgendetwas mit auf den Weg geben sollen. Manchmal ist es schwer, dieses „Etwas“ zu finden. Zu fremd erscheinen die Texte, zu weit weg von unserer heutigen Lebenswirklichkeit. Trotzdem sollten wir nicht gleich abschalten, sondern offenbleiben. Denn es kann sein, dass uns doch unverhofft und unerwartet ein Wort, ein Bild, eine Geschichte berührt. Der Prediger oder die Predigerin bemühen sich um eine zeitgemäße Auslegung. Aber es bleibt natürlich einseitig ihre Sicht, ein Angebot an die Hörer und Hörerinnen, dieses oder jenes weiterzudenken bzw. zu meditieren. Und oft berührt der Geist Gottes die Herzen, wie, wann und wo er will. Hauptsache sie sind eben offen, damit er eintreten und wirken kann.
Gott macht es den Religionsvertretern nicht gerade leicht. Seine Propheten und Prophetinnen kommen in der Regel nicht aus deren Reihen. Sie sind oft Laien, wie in den heutigen Texten der Prophet Amos aus dem 8. Jahrhundert v.Ch. und im Evangelium Jesus selber, auf dessen Stirn nicht stand, dass er der Sohn Gottes ist. Amos weigerte sich sogar, Prophet genannt zu werden und Jesus bezeichnete sich wohl am liebsten als „Menschensohn“. Reformbewegungen in der Kirche waren oft Laienbewegungen, viele Orden waren zu Beginn reine Laiengemeinschaften. Es ist klar, dass die Religionsvertreter mit solchen Propheten und Prophetinnen oft fremdeln, sind sie doch nicht ausgebildet und offiziell gesendet. Es gibt vermutlich viele solcher von Gott gesandten Menschen, sozusagen als „Gebetserhörung“ für sog. „geistliche Berufe“. Aber man sieht sie nicht oder will sie nicht sehen.
Der Oberpriester von Bet-El, Amaza, ist schärfster Gegner von Amos und will ihn vertreiben. Warum? Amos ruft nicht zu mehr Frömmigkeit auf, sondern zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Denn der Luxus der wenigen Reichen führte zu mehr Ausbeutung und Verelendung der Armen. Amos sah schon damals darin ein Zeichen realen Unglaubens, der sich hinter tollem Kult und religiösem Aktionismus versteckte. Ja, ein zutiefst ungerecht gewordenes System versuchte, sich noch religiös zu legitimieren. Das konnte freilich der Priester Amazja nicht tolerieren. Und es ist doch immer schwer, liebgewordene Traditionen zu lassen, weil sie Unrecht stützen oder nicht mehr zeitgemäß geworden sind. Ist Amos wirklich 3000 Jahre von uns entfernt?
Freilich hilft nicht nur eine unreflektierte Kritik gegen „die da oben“. Denn wir alle sind immer auch Teil eines Systems.
Wenn wir uns heute also alle von Amos, von gottgesandten Propheten und Prophetinnen, angesprochen fühlen wollen, dann fragen sie uns immer, ob unsere Lebensweise, unsere Lebenseinstellungen, unsere religiöse Praxis, ein Beitrag für mehr Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe ist. Gottes Propheten und Prophetinnen müssen keine Kirchgänger sein, sie müssen nicht einmal religiös oder ausgewachsen sein. Eines aber sind sie immer: es sind oft still Liebende, oft darum Leidende und Verletzte, und manchmal auch zornige, die alles Unrecht, alle Ungerechtigkeit und Liebelosigkeit beim Namen nennen.
Lassen wir uns ermutigen, Lebenswenden zu wagen, die uns den Menschen, uns selbst, den Geschöpfen, der Mutter Erde und darum wieder auch Gott näherbringen. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)