(Ez 33, 7–9; Röm 13, 8–10; Mt 18, 15–20)
Liebe Schwestern und Brüder,
wenn wir den biblischen Texten heute eine Überschrift geben müssten, so hieße sie wohl: Verantwortung füreinander. Paulus bringt das ja in der 2. Lesung an die Römer und uns auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes“ (Röm 13, 10). Das klingt alles so einfach und klar, ist aber in der Praxis deutlich schwieriger anzuwenden. Was heißt denn „Verantwortung füreinander“, was heißt „gegenseitige Liebe“? Und es gibt einen Satz im Evangelium, den der irdische Jesus wohl so nicht gesagt haben kann, wenn es da heißt: „Hört er auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner“ (V 17). Da spricht der Evangelist Matthäus in seine Gemeinde und vergisst in seinem Übereifer, was er selbst in Mt 11,19 geschrieben hatte, nämlich dass Jesus ein „Freund der Zöllner und Sünder“ sei.
Es gibt sicherlich auch viele, die gerne die Rolle eines Wächters (1. Lesung) spielen möchten, aber leider nicht so, wie es eigentlich gemeint ist. Hier geht es nicht um Sittenwächter, nicht um Wächter der sog. „reinen Lehre“. Da kann auch niemand seine Kritiksucht pflegen, die nur niedermacht und zerstörend ist. Nein, die Stadtwächter in der Antike hatten die Aufgabe, die Bevölkerung vor Gefahren zu warnen und so ihr Leib und Leben zu schützen. Den Wächter zeichnet also die liebevolle Sorge um das Wohl der ihm Anvertrauten aus.
Wo Menschen zusammenleben, kommt es natürlich auch zu Konflikten. Die sollen aber im Verständnis des Evangelisten Matthäus nicht gleich in die Öffentlichkeit gezerrt, sondern erst einmal im persönlichen Gespräch geklärt werden. Dabei kann es durchaus sein, dass die Liebe uns rät, manchmal einzusehen, dass es auch Konflikte gibt, die man nicht mit aller Gewalt und allen Mitteln aus-, sondern nur ertragen kann. Wenn uns das Leben ein sog. „Wächteramt“ zumutet, dann tun wir das nicht aus einer Position der Überlegenheit heraus, nicht aus einem Blickwinkel des Besserwissens, sondern in wertschätzender Achtsamkeit und liebevoller Verantwortung füreinander. Aber das ist in der Regel immer sehr schwer und muss uns einiges an Selbstüberwindung kosten, damit das Wächtersein und jegliche, notwendige Kritik nicht nur abwertet, kaputt macht und niederreißt. Vielleicht müssen wir manchmal einfach aus liebevoller Verantwortung heraus den Mut haben, ein schwieriges Thema anzusprechen, wenn jemand nicht merkt, dass er anderen unachtsam auf der Seele und seinem Herzen herumtrampelt. Dann kann es auch sein, dass man sich diesem Menschen entziehen muss, wenn er das nicht versteht. Vielleicht ist das auch der Sinn von: „dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner“, wobei auch ein Heide oder Zöllner immer die Liebe Jesu erfahren hat.
Jeder mag aus den Texten heute mitnehmen, was ihn besonders anspricht. Sie sind möglicherweise nicht leicht ins konkrete Leben zu übersetzen. In aller Demut aber sollten wir ein Leben lang daran arbeiten, dass wir gegenseitige Liebe irgendwie immer und zuerst einander schulden, wie der heilige Paulus es schon formulierte. Gott wird uns bestimmt gerade in diesem Bemühen von Herzen unterstützen. Ihm sei Dank jetzt und in Ewigkeit. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)