(Ex 20, 1–17; 1 Kor 1, 22–25; Joh 2, 13–25)
Liebe Schwestern und Brüder,
wo Menschen zusammenleben, geht es ohne Vereinbarungen bzw. Gesetzen, ohne Kompromisse nicht ab. Zu verschieden sind wir als Individuen, zu unterschiedlich der Reifegrad an Menschlichkeit und Liebe. Da sind 10 Gebote oder Weisungen eigentlich nicht viel. Es gibt zwei Fassungen der 10 Gebote. Eine steht im Buch Deuteronómium Kapitel 5, die andere haben wir heute aus dem Buch Exodus gehört bzw. gelesen. Um diese Gebote in ihrer Wichtigkeit zu unterstreichen und zu begründen, werden sie in religiösen Geschichten auf Gott selber zurückgeführt. In einer Welt, die zunehmend und auch ausdrücklich ohne Gott auskommt, kann man kaum noch Gesetze mit dem Verweis auf Gott begründen. Das bedeutet deswegen aber nicht, dass es dann in unserer Welt drunter und drüber geht. Denn Gott verbirgt sich in Menschenrechten, in Grundgesetzen und jeglichen Formen von gelebter Menschlichkeit. Es ist ja auch lange nicht ausgemacht, dass da, wo Gott noch eine größere, öffentliche Rolle spielt, automatisch eine liebevollere Ethik und Praxis herrscht. Das widerlegt schon ein unvoreingenommener Blick in die Geschichte.
Das Besondere an den 10 Geboten, griechisch „Dekalog“ genannt, ist, dass sie nicht mit einem Gebot, sondern mit einer Erinnerung beginnen. Gott erinnert uns daran, dass er ein Gott der Befreiung ist. Überall da, wo wir aus Engherzigkeit, aus inneren und äußeren Gefangenschaften befreit wurden und werden, da war es Sein Werk, weil wir es nämlich immer wie ein als lange ersehntes Wunder empfinden und im Nachhinein als solches erfahren haben werden. Die Antwort darauf kann nur demütige Dankbarkeit sein und der Wunsch, es anderen ebenfalls zu Erfahrung werden zu lassen.
Die Dankbarkeit Gott gegenüber drückt sich im ersten Teil der 10 Gebote aus. Denn sie behandeln Weisungen zwischen Gott und Mensch. Wer einen guten Arzt gefunden hat, wird ihn kaum für einen Scharlatan verlassen. Leider ist das immer wieder durch die Geschichte, auch des Christentums, die schmerzhafte Erfahrung Gottes. Und ausgerechnet da, wo das religiöse Leben scheinbar zu blühen scheint, da wird Gott oft zum Geschäftspartner degradiert oder als moralische Keule missbraucht. Kein Wunder, dass das auch Jesus in Rage gebracht hat, wie man im heutigen Evangelium gehört bzw. gelesen hat. Denn statt eine liebe – und vertrauensvolle Gottesbeziehung zu fördern und zu unterstützen, wurden und werden mit Gott Geschäfte gemacht, in denen man sich Gottes Liebe und Zuwendung erkaufen, erbeten und verdienen konnte und kann.
Auch, wenn wir in einer sog. „freiheitlichen“ Gesellschaft leben, wird unser Leben oft von inneren und äußeren Zwängen eingeengt. Für Gottsucher und Gottgläubige aber ist „Gott“ ein anderes Wort für eine innere Freiheit, die uns einigermaßen vor lebenseinengenden Manipulationen und dem Druck einer gleichgeschalteten sog. „Öffentlichkeit“ bewahrt.
Im Eröffnungsvers hieß es heute aus Psalm 25: „Meine Augen schauen stets auf den Herrn; denn er befreit meine Füße aus dem Netz.“ Diese Erfahrung wünsche ich uns immer wieder neu, damit wir in Seinen Spuren selbst zu Befreiern für Menschen und Geschöpfen werden, wo immer es geht. Da muss nicht gleich „Kirche“ oder „Gott“ draufstehen. Aber immer bedeutet es ein Mehr an Leben, Menschlichkeit und Liebe. Das alles sind andere Worte für „Gott“, der auf viele Weisen, manchmal auch scheinbar törichte und schwache, nahe und gegenwärtig sein möchte. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)