(Spr 31, 10–31; 1 Thess 5, 1–6; Mt 25, 14–30)
Liebe Schwestern und Brüder,
ich habe mich gefragt, wie ich die biblischen Texte des heutigen Tages mit dem Diaspora-Sonntag in Verbindung bringen kann. Zudem ärgert es mich immer wieder, wie biblische Texte manchmal zusammengekürzt werden, so auch heute in der 1. Lesung aus dem Buch der Sprüche. Wir haben heute alle Verse gehört, so wie wir sie im Buch der Sprüche finden. Hört man nur die Verse aus dem Lektionar, vernimmt man doch ein völlig überholtes Bild der sog. „tüchtigen Frau“. Eigentlich ist da von einer „starken Frau“ die Rede. Das Bild, das der vollständige Text von der starken Frau entwirft, war selbst für antike Zeiten höchst ungewöhnlich und ist es noch bis heute in Welt, Kirche und Religionen. Und da sind wir auch schon bei dem Diaspora-Sonntag. Schließlich muss man doch festhalten, dass kirchliches Leben hauptsächlich von Frauen alltäglich am Leben erhalten wird. Die starke Frau aus dem Buch der Sprichwörter ist eben nicht das „bürgerliche Heimchen am Herd“, ist eben nicht nur die gehorsame Dienerin für alle. Der vollständige Text setzt ganz andere Akzente. Die starke Frau hat eigenen Besitz, ein eigenes Haus. Sie hat Bedienstete, ist Unternehmerin. Der ganze Haushalt profitiert von ihrem tatkräftigen Tun. Diese Frau ist zu Hause und in der Öffentlichkeit geachtet und wertgeschätzt. Selbstverständlich muss sich diese Systemrelevantheit auch im System selber zum Ausdruck bringen. Denn Gott interessiert nicht zuerst das Geschlecht eines Menschen, sondern wie er sein Leben gestaltet und wie groß und weit sein Herz ist. Geeignet für Berufe und Berufungen ist man nicht, weil man Mann oder Frau ist, sondern weil man dafür geeignet und von Gott dazu berufen ist. Die starke Frau in unsrem Text ist nicht zuerst gottverbunden, weil sie so fromm, sondern weil sie so tatkräftig ist. Dadurch wird sie zu einer „Tochter des Lichts“, wo es in der 2. Lesung nur „Söhne des Lichts“ zu geben scheint.
Tatkräftig das Leben anzupacken und zu wagen, weil Gott uns das zutraut, ist auch die Sinnspitze des Gleichnisses aus dem Evangelium. Ehrlich gesagt, ist mir die Behandlung des Dieners mit dem einen Talent zu hart und zu unbarmherzig. Freilich ist die Angst keine gute Lebensberaterin. Und wie oft glauben und behaupten wir mehr, als wir am Ende auch tun. Die Angst, dass etwas schief gehen könnte, tut am Ende genauso weh, wie wenn wirklich etwas schief gegangen ist. Gott aber ermutigt uns zum Risiko, ermutigt uns, das Leben zu wagen, auch auf die Gefahr hin, dass was schief gehen kann. Aber die frohe Botschaft des Dieners mit dem einen Talent ist doch, dass Gott selbst da noch Lebensfrüchte findet, wo nichts gesät wurde. Gott weiß doch um unsere vielen Ängste. Aber sie sollen uns eben nicht hindern, das Leben mit Risiko und Vertrauen zu wagen. Das machen starke Frauen und Männer, starke Kinder und Jugendliche in der Diaspora und vielerorts auch. Ihnen allen gilt heute unser besonderer Dank, in der tiefen Verbundenheit mit einem Gott, dessen Sohn sein Leben aus Liebe für uns riskiert und verloren hat. Aber auch hier hat Gott etwas Großartiges entstehen lassen, wo scheinbar alles verloren war. Das sollte uns ermutigen und zu „Hoffnungsträgern“ für viele machen. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)