(Jes 32, 15–19; Offb 21, 1–5a; Joh 13, 33a-35)
Liebe Schwestern und Brüder,
wenn ich die erste und zweite Lesung heute so höre, dann scheinen mir die großartigen Visionen eines neuen Himmels und einer neuen Erde sowie das Hoffen auf den „Geist aus der Höhe“ irgendwie ein indirektes Eingeständnis dafür zu sein, dass wir Menschen wohl Recht, Gerechtigkeit und Frieden von alleine für unsere Welt nicht hinbekommen, jedenfalls nicht dauerhaft. Die meisten Menschen dieser Welt werden das ersehnen, eine Welt des friedlichen Miteinanders, eine Welt, in der es nur noch Freudentränen gibt, eine Welt, in der Tod, alle Trauer, alle Klage, alle Mühsal endgültig und für alle Ewigkeiten keine Realitäten, sondern nur noch Fremdwörter sein werden. Es könnte fast scheinen, als vertrösteten wir uns angesichts unbegreiflicher Realitäten doch auf eine Zukunft, auf ein Jenseits, die uns geschenkt werden müssen. Für religiöse Menschen ist Gott die Quelle für alle Hoffnung auf einen Wandel, der alle schmerzliche Begrenzung hinwegnimmt.
Heißt das nun, dass wir die Hände in den Schoß legen können? Natürlich nicht! Das erste, was wir tun können, ist, dankbar darüber zu sein, wenn unser Leben gerade keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal im Übermaß kennt. Auch jeder Tag, den wir in Frieden leben dürfen, ist ein großes Geschenk. Und jeder von uns ist in die Verantwortung dafür genommen, dass er in Gedanken, Worten und Werken eine friedlichere und gerechtere Welt mitgestaltet, wie immer und wo immer er kann. Die Hoffnung auf eine paradiesische Zukunft, auf eine endgültige Befreiung von allem, was schmerzliche Grenzen setzt, erinnert uns daran, dass nicht wir es sind, die diesen endgültigen Zustand von Himmel herstellen können. Aber diese Vision, diese Hoffnung, mag uns darin bestärken, schon jetzt an einer Welt mitzubauen, täglich, hier und heute, in der Recht, Gerechtigkeit und Frieden eine Chance haben.
So neu ist das Gebot Jesu, einander zu lieben, nicht. Das durchzieht auch schon das erste Testament. Ich glaube sogar, dass dieses Gebot in jedem Menschenherzen zu Hause ist. Aber es ist toll, dass Jesus nicht eine besondere Frömmigkeit, nicht besondere, religiöse Leistungen zum Maßstab gemeinsamen Christseins gemacht hat, sondern die Liebe. „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“ (Joh 13,35)
Die Art und Weise, wie wir als Menschen miteinander umgehen, ist die wichtigste Form von Verkündigung. Freilich ist das Einander lieben viel zu unkonkret. Doch die Texte des heutigen Sonntages geben konkrete Hinweise. Wo immer es uns möglich ist, dem Recht, der Gerechtigkeit und dem Frieden einen Weg zu bereiten, sollten wir es tun. Wo immer es uns möglich ist, Trauer, Klage und Mühsal zu lindern oder gar wegzunehmen, Tränen abzuwischen und zu trösten mit menschlicher Nähe und Achtsamkeit, da brechen Leben und Hoffnung auf, da berührt der Himmel die Erde, da wird Liebe konkret, da wohnt das Geheimnis Gottes mitten unter den Menschen. Die große Hoffnung möge uns beflügeln, all‘ den kleinen Hoffnungen zum Recht und zum Leben zu verhelfen, auch wenn die große Befreiung und die himmlische Wandlung noch ausstehen. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)