(Jes 32, 15–19; 1 Joh 3, 18–24; Joh 15, 1–8)
Liebe Schwestern und Brüder,
im Evangelium heute sagt Jesus: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ (V5). Und: „getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen“. Wie aber gelingt es, wirklich aus der Wurzel, aus dem Weinstock „Jesus“ zu leben? Das ist ja leichter behauptet, als getan! Und immer wieder hält man ja für besonders religiös, wenn ein Mensch eine gewisse strenge Religiosität pflegt. Auch Ostern und der Glaube an ein ewiges Leben sind leichter behauptet, als mit wirklichem Vertrauen gefüllt.
Ein Sterbender, der Angst vor dem Sterben hat, ist nicht deswegen ungläubig, nur weil er Angst hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass Jesus Angstfreiheit versprochen hat, zumal er selbst durch die Nacht der Angst hindurchgehen musste. Oft behauptet man ja, dass ältere Menschen die sog. „Gläubigeren“ sind. Dabei ist oft das Gegenteil der Fall. Eher sind sie heute, die Fragen und Zweifel haben, als manch‘ Jüngere, die nicht selten Vertrauen und Glaube mit dem Festhalten an dogmatischen Sätzen und religiöser und moralischer Strenge verwechseln.
Es ist also liebevoll, wenn man Zweifel und Glaubensnot ernst nimmt und nicht gleich wegglauben, wegbeten oder wegerklären will. Genau dieses Problem scheint nach dem Enthusiasmus jesuanischer Begeisterung am Anfang der Christenheit auch passiert zu sein. Zu viele gab es, die „mit Wort und Zunge“ begeistert lieben konnten, aber in der alltäglichen Praxis „Tat und Wahrheit“ vermissen ließen. Daran hat sich auch bis heute nicht viel geändert.
Wenn wir also wissen wollen, ob wir am Weinstock Jesu dran sind oder nicht, ob wir jene Früchte bringen, um die es Gott wirklich geht, dann sollten wir schaun, wie es um unsere konkrete Liebe steht. Bekenntnisse allein ändern erst einmal gar nichts. Strenge Religiosität kann nur Liebe in Tat und Wahrheit bedeuten. Wenn man dann den Mut aufbringt, die Kluft zwischen Reden und Tun wahrzunehmen, zu spüren und zu akzeptieren, ja, dass uns unser Herz leider auch verurteilt, dann sollten wir uns trotzdem voll Vertrauen in Gottes Arme werfen und unsere Herzen am Herzen Gottes updaten. Ja, Therese von Lisieux und viele andere haben Recht, wenn sie sagen, dass am Ende vor Gott nur die tatsächlich gelebte Liebe zählt. Aber alle demütig gewordene Gläubige werden wissen, wie sehr alle Liebe seinen Ursprung in dem hat, der sich heute als „Weinstock“ bezeichnet. Und sie werden auch wissen, dass er in uns bleibt, nicht weil wir einfach nur Religionszugehörige sind, sondern weil uns der Geist der Liebe beseelt in Tat und Wahrheit.
In diesem Geist erkennen wir auch, dass alle, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, ihrer Weltanschauung oder ihrer persönlichen Ansichten, Schwestern und Brüder vor Gott sind. „Mission“ kann nicht bedeuten, Mitglieder zu gewinnen, sondern sich mit allen verbunden und eins zu wissen, in denen sein Geist lebt und in Tat und Wahrheit alltäglich praktiziert wird.
Möge uns Gottes Geist dazu geschenkt sein. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)