6. Sonn­tag im Jah­res­kreis A (12.02.2023)

(Sir 15, 15–20; 1 Kor 2, 6–10; Mt 5, 17–37)

Lie­be Schwes­tern und Brü­der,
ich stel­le mir vor, ich wä­re Seel­sor­ger in dem Erd­be­ben­ge­biet der Tür­kei und Nord­sy­ri­en. Was wür­de ich denn den Men­schen heu­te pre­di­gen wol­len, auch im Hin­blick auf die heu­ti­gen Tex­te? Ir­gend­wie er­schie­nen mir al­le Wor­te leer, wür­de ich mich an­schei­nend mit The­men be­fas­sen, die die Men­schen ge­ra­de über­haupt nicht be­rüh­ren. Manch­mal scheint mir, dass ge­nau die­ses Pro­blem auch die Men­schen in un­se­ren Kir­chen ha­ben und sich ziem­lich un­ver­stan­den und ver­las­sen füh­len. Müs­sen sich Men­schen an­ge­sichts die­ser und an­de­rer Ka­ta­stro­phen nicht so­wie­so fra­gen, ob sie von Gott ver­las­sen sind? So klin­gen doch die Tex­te, die wir heu­te ge­hört ha­ben, ziem­lich fremd und weit weg, wo es für vie­le ge­ra­de um das nack­te Über­le­ben geht. Auch, wenn es uns an­ge­sichts der ex­tre­men Not ein­fach nur die Spra­che ver­schlägt und Schwei­gen wirk­lich bes­ser wä­re als schnel­le, klug und gut ge­mein­te Re­den, Deu­tun­gen und Er­klä­run­gen, so ist das Trotz­dem­ver­trau­en in Got­tes Lie­be und Nä­he für vie­le Quel­le von Kraft und Trost.
Si­cher gibt es vie­le Ge­set­ze, Ge­bo­te und Ver­bo­te, die über das Ziel, das Gott steckt, hin­aus­schie­ßen. Aber wenn der Evan­ge­list Mat­thä­us Je­sus sa­gen lässt, dass er nicht ge­kom­men ist, um auf­zu­he­ben, son­dern um zu er­fül­len (Mt 5, 17), dann geht es doch um ei­nen be­stimm­ten Geist, der uns er­fül­len soll, da geht es nicht zu­erst um blo­ße Hand­lun­gen, son­dern um grund­sätz­li­che Hal­tun­gen. Die Bei­spie­le, die im Evan­ge­li­um aus­ge­führt wer­den, schie­ßen auch über das Ziel hin­aus, ge­treu dem Satz: in der Über­trei­bung liegt die An­schau­ung. Aber wenn es Gott und Je­sus im­mer um ei­ne Hal­tung der Lie­be geht, dann kann man nicht hier oder da ein biss­chen lie­ben, da kann man sich nicht hin­ter blo­ßer Ge­set­zes­er­fül­lung ver­ste­cken und viel­leicht man­geln­de Lie­be ka­schie­ren. Nein, dann schul­den wir eben die Lie­be ein­an­der im­mer, wie der hl. Pau­lus sagt, und das ver­mut­lich nicht we­nig.
Ei­ne Ge­rech­tig­keit, die nur rech­net, ist nicht Got­tes Ge­rech­tig­keit. Die­se be­deu­tet im­mer ei­ne ab­sichts­lo­se und be­din­gungs­lo­se An­nah­me und Lie­be, noch be­vor wir ir­gend­wel­che mo­ra­li­sche Ent­schei­dun­gen tref­fen, de­ren Grün­de ge­ra­de mit dem heu­ti­gen Wis­sen um Psy­cho­lo­gie, Ge­ne­tik, Ge­hirn­for­schung etc. so schwer zu ent­zif­fern sind.
Aber al­le, die Men­schen in Not bei­ste­hen und dies um der Men­schen wil­len tun, sind Bo­ten Got­tes. Sie pa­cken an, wen­den Not, so gut es geht, und hal­ten sich mit Er­klä­run­gen zu­rück.
Nie­mand kann Erd­be­ben ver­hin­dern. Aber wo die Lie­be als Hal­tung die stärks­te Kraft ist, da be­ben mensch­li­che Her­zen in Dank­bar­keit. Da wird Selbst­ge­rech­tig­keit er­schüt­tert, die nur sich selbst groß und an­de­re klein ma­chen muss, da wird man in al­ler De­mut zu­ge­ben müs­sen, dass wir weit ent­fernt sind von je­nem Lie­bes­sturm, der von Gott und Je­sus aus­geht. Aber wenn uns Gott das Ver­trau­en schenkt, dass er er­sehnt, dann ver­ste­hen und le­ben wir im­mer mehr, dass es im­mer nur um die Lie­be geht, um nicht mehr und nicht we­ni­ger, im gro­ßen, wie im ganz klei­nen. Amen.

(P. Tho­mas Röhr OCT)