(Lev 19, 1–2.17–18; 1 Kor 3, 16–23; Mt 5, 38–48)
Liebe Schwestern und Brüder,
Rezensionen zu schreiben, ist eine Kunst. Denn man versucht, den Inhalt eines Buches zum Beispiel in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Auch Fremd- und Fachwörter haben den Sinn, größere Zusammenhänge in einem oder mehreren Wörtern zusammenzufassen. Ich glaube, dass Jesus den roten Faden des 1. Testamentes im Doppelgebot der Liebe (Mt 22, 34–40) prägnant zusammengefasst hat. Manche denken ja, Jesus hätte das erst ganz neu formuliert und erfunden. Aber das stimmt natürlich nicht.
Der erste Teil des Doppelgebotes ist das Schema Jisrael, und das findet man im Buch Deuteronómium, im Kapitel 6, Verse 4–9. Den zweiten Teil haben wir heute in der 1. Lesung aus dem Buch Levitikus, Kapitel 19, Vers 18, gehört: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Das fanden die Menschen zu Zeit Jesu auch schon klasse, mehr aber oft nicht. Die Christen schlossen sich dieser Haltung in der Regel auch an, weil es schlicht und ergreifend viel leichter ist, einfach nur fromm zu sein und sich um die Liebe nicht weiter zu scheren. Die ist nämlich anstrengend und stellt religiöse Selbstgefälligkeiten immer wieder in Frage.
Oder sind die Worte Jesu heute nicht eine Zumutung? „Liebt eure Feinde“ klingt nicht lustig und irgendwie nach emotionaler Überforderung. Wie viele (Berufs)Christen haben dieses Gebot schlichtweg verdrängt oder sich über Gefühle des Hasses und des Zornes ihr christliches Gewissen zerbrochen! Solche Gefühle muss man zunächst zulassen und zur Kenntnis nehmen, auch wenn das unser Selbstbild verletzt. Ihre Anwesenheit ist nicht gleich moralisch verwerflich. Gefährlich wird es nur, wenn wir uns ihnen kampflos überlassen. Denn dann werden wir mit Sicherheit am Liebesgebot scheitern.
Was uns Jesus vielleicht heute sagen will, ist dies: tatsächlich ist Liebe oft eine Zumutung und Herausforderung. Aber sie rettet uns auch vor der Hölle in uns selber. Denn wenn der Hass unser Herz verwüstet und vergiftet hat, dann entmenschlichen wir schnell den wirklichen oder eingebildeten Feind und rechtfertigen dann ohne Gewissensbisse unmenschliches Verhalten. Und genau das erlaubt uns Jesus nicht. Entweder konsequente Liebe oder wir lassen es bleiben, vielleicht auch bei schönen Worten.
Ich jedenfalls werde niemanden meine rechte Wange hinhalten, noch lass ich mich von denen, die mir auf der Seele rumtrampeln, vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe. Aber ich könnte versuchen, mit Gottes Hilfe und Geist erwartete Reaktionen zu durchbrechen und mich nicht vom lieblosen Geist anderer anstecken zu lassen. Das ist leichter gesagt und vorgenommen, als getan. Aber einen oder viele Versuche ist es wert – um unseretwillen, um Gottes willen und um einer liebevolleren Welt willen.
„Seid also vollkommen, wie eurer himmlischer Vater vollkommen ist“, meint keine moralische Leistung und Vollkommenheit. Der himmlische Vater ist vollkommene Liebe, ganz und gar und ungeteilt. Das ist ohnehin unsere Hoffnung und die Quelle der Menschlichkeit – im Himmel, wie auf Erden. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)