(Jes 55, 6–9; Phil 1, 20ad-24.27a; Mt 20, 1–16)
Liebe Schwestern und Brüder,
die erste Lesung aus dem Buch Jesaja ist geradezu eine Lesehilfe für das Evangelium. „Sucht den Herrn“ (Jes 55,6), heißt nämlich auch, sich auf die Gedankengänge Gottes einzulassen und die eigenen, sicher oft klugen, Gedanken weder als Angelpunkt der Welt zu betrachten, noch mit den Gedanken Gottes allzu gedankenlos zu verwechseln. Ohne, dass wir uns dessen bewusst sind, sind unsere Gedanken doch oft recht festgelegt, einseitig und zumindest ausbaufähig. Es gibt z.B. Fragen, die dies auf lustige Weise offenlegen können. Da gibt es die Frage, wie viele Tierpaare Abraham mit in die Arche genommen haben könnte. Während wir also darüber nachdenken, merken wir nicht, dass nicht Abraham, sondern Noah in der Arche war. Natürlich ist es ungerecht, wenn die Arbeiter, die 12 Stunden gearbeitet haben, am Ende den gleichen Lohn erhalten wie jene, die nur eine Stunde gearbeitet haben. Aber das ist eben nicht die Sinnspitze des Gleichnisses. Für uns, denen Zahlen, das Vergleichen, Quantitäten und Leistungen so wichtig sind, fällt es schwer, Gottes Gedankengänge nachzugehen. Für ihn scheint unser Denken fremd zu sein. Vor ihm zählt kein Rechnen, Vergleichen und Leisten. Vor ihm zählt auch keine anonyme Masse, keine anonyme Kirche oder Gemeinde, keine zu Konsumenten und Verbrauchern degradierte Menge. Bei ihm zählt der einzelne Mensch und dass er hat, was er zum Leben braucht. Ein Denar war das Existenzminimum für eine Familie für einen Tag. So denkt, so tickt Gott. Das meint bei Ihm Gerechtigkeit: nicht Leistungsgerechtigkeit, sondern Liebesgerechtigkeit, nicht Anspruchsdenken, sondern Dankbarkeitsdenken. Es mag ja sein, dass mancher ein Leben lang ein treuer und braver Katholik war. Aber einen Anspruch kann er daraus nicht ableiten, genauso wenig wie man ihn aus Ämtern und Würden ableiten kann. Denn Gott interessiert nicht, ob man Erster als Pfarrer, Bischof oder Papst war. Gott interessiert, ob wir uns immer wieder neu bemüht haben, uns auf Sein Denken in Kategorien der Liebe und Barmherzigkeit einzulassen, darauf, jedem Menschen und Geschöpf sein Existenzminimum an würde- und ehrfurchtsvollem Leben geschenkt und ermöglicht zu haben. Ihn interessiert, ob wir mehr an unserem Lohn oder mehr an Gottes Barmherzigkeit interessiert waren und sind. Denn wer kann schon am Ende seines Lebens mit breiter Brust vor Gott hintreten und seinen Lohn einfordern? Jeder von uns braucht Gottes Erbarmen und hängt an dem Vertrauen, dass Gott „groß im Verzeihen“ (Jes 55,7) ist.
Möge es Gott uns schenken, dass wir immer wieder neu aufbrechen im wahrsten Sinne des Wortes, um Gottes Gedanken und Wegen nachzuspüren, nachzumeditieren und so in der Gotteskindschaft zu wachsen und zu reifen. Amen.
P. Thomas Röhr OCT