(Jes 32, 15–19; 1 Joh 3, 18–24; Joh 15, 1–8)
Liebe Schwestern und Brüder,
von Anfang an war klar, dass der Geist der Liebe das Grundprinzip christlichen Lebens ist. Von Anfang an war auch klar, wie schwer es ist, tatsächlich und im Alltag daraus zu leben. So war und ist bloße Frömmigkeit, sind bloße Lippenbekenntnisse und das bloße Festhalten an sog. „ewigen (abstrakten) Wahrheiten“ willkommene Fluchtmöglichkeiten, um sich dem Anspruch und der Mühe täglicher Liebe nicht stellen zu müssen. Denn nicht umsonst heißt es heute im 1. Johannesbrief: „Meine Kinder, wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit“ (1 Joh 3, 18). Das galt doch nicht nur für die Christen von damals, sondern gilt für die Christen aller Zeiten. Wie war und ist es überhaupt möglich, dass Christen, Amtsträger immer eingeschlossen, die Grundbotschaft der Liebe so leicht und ohne schlechtes Gewissen vergaßen bzw. vergessen und in Tat und Wahrheit Liebelosigkeit lebten und leben? Überall da, wo Dogmatik, Moral, die reine Lehre, korrekte Liturgie und eine abstrakte Kirche der letzte und alleinige Maßstab geworden sind, hat oft die Liebe verloren.
Ein erster Schritt aus einem lieblos gewordenen Selbstverständnis ist das Bekenntnis, dass es schlicht ein Übermaß an „mit Wort und Zunge lieben“ gibt, auch im persönlichen Leben. Das tut zunächst weh, rüttelt an einem oft mühsam zusammengebastelten Selbstbild, gibt aber der Liebe eine neue Chance, die Gott uns gerne wieder ins Herz legt. Denn natürlich verurteilt uns oft unser Herz, das wir im Lärm unserer Geschwätzigkeit nicht mehr hören konnten. Aber die schmerzliche Selbsterkenntnis wird zu einer tröstlichen Gotteserfahrung, dass Gott eben größer ist als unser Herz und alles weiß (V 20). Jeder, der Erkenntnisse von Psychologie, Gehirnforschung, Genetik und kulturell wie sozial bedingte Abhängigkeiten ernst nimmt und zulässt, weiß, wie letztendlich wunderbar jeder Funke und jede noch so kleine Form von Liebe ist. Immer wird unsere Liebe ein Wunder bleiben, wird sie in Spannung stehen zwischen „Wort und Zunge“ und „Tat und Wahrheit“. Das sollten wir uns immer ehrlich eingestehen, in aller Demut und mit großem Gottvertrauen. Denn ohne Liebe ist der Glaube eine Illusion und Selbstbetrug.
Es geht nicht um eine Liebe, auf die wir uns wieder etwas einbilden könnten. Es geht um eine Liebe, die Gott selber uns geschenkt hat und die unser Leben wahrhaftiger, liebevoller und barmherziger macht. Das ist der Geist, der uns und anderen deutlich macht: hier ist das Geheimnis der Liebe nahe, zum Trost für uns selbst, aber auch für all jene Menschen und Geschöpfe, die gerade ein Zeichen unserer Liebe als Sakrament der Liebe Gottes erwarten und ersehnen. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)