(Dtn 6, 2–6; Hebr 7, 23–28; Mk 12, 28b-34)
Liebe Schwestern und Brüder,
manche denken, Jesus hätte mit dem Doppelgebot der Liebe etwas ganz Neues gesagt, was es so im Ersten Testament noch nicht gegeben hat. Das ist jedoch nicht der Fall, weil beide Gebote, zwar getrennt voneinander, so im Ersten Testament schon vorhanden sind. Das erste Gebot haben wir heute aus dem Buch Deuteronómium gehört. Es ist jenes Glaubensbekenntnis, das jede Jüdin, jeder Jude, früh und abends betet. Das zweite Gebot der Nächstenliebe steht im Buch Levitikus, und zwar im Kapitel 19, Vers 18. Natürlich stehen im Ersten Testament Dinge, die wenig heilig und gottgemäß sind. Das wusste auch Jesus. Und wie auch heute kann man sich trefflich darum streiten, welche Prioritäten des Glaubens man setzen muss, um den roten Faden des Geistes Gottes aufnehmen zu können. Das hat Jesus in aller Klarheit und Konsequenz getan. Vor allem aber hat er es gelebt. Das Problem ist nur damals wie heute, dass viele Menschen nicht mehr wirklich zuhören können und nicht hören wollen, was ihre Ansichten in Frage stellt. Darum heißt es ja zurecht am Beginn des ersten Gebotes: „Höre!“. Vielleicht ist dies auch eine wichtige Form des Betens, die nicht zuerst Reden, sondern Hören und Stille bedeutet. Still werden also vor dem Lärm unserer Gedanken und dem Wirbel in unseren Herzen. Still werden vor allem, was ich angeblich alles für Gott tun muss, um seine Liebe zu gewinnen. Denn zuerst soll ich die einzig wahre, göttliche Stimme vernehmen, die mir ins Herz flüstert: „Du bist unendlich geliebt!“. Das ist zunächst einmal die einzig wichtige Wahrheit unseres Lebens. Darum ist das Geheimnis Gottes einzig, weil Götzen uns eher Angst machen und uns innerlich wie äußerlich versklaven wollen. Gott aber befreit von Angst, von Leben, das nicht gelebt werden darf. Das heißt in der Bibel „Exodus“, Auszug aus lebensfeindlichen Zusammenhängen. Da aber Angst nicht zur Liebe passt, befreit Gott auch zu angstfreier Liebe. Gott zu lieben, heißt, ihm glauben und vertrauen, dass wir wirklich seine geliebten Kinder sind, und zwar mit oder ohne Taufschein. Nicht nur mit dem Kopf, nicht nur in wortreichen Bekenntnissen, sondern in Ganzheit, mit Herz, Seele, Verstand und wirklich aller Kraft. Genau das ist das erste Zeugnis Jesu: lernt, Gott zu lieben.
Damit aber niemand meint, dass diese Liebe vor allem eine bestimmte Form religiöser Praxis und Leistung bedeutet, bindet er die Liebe zu Gott an die Liebe zum Nächsten. Ob also ein Mensch gottverbunden lebt, sieht man nicht an seiner religiösen Leistung, sondern an seiner konkreten, alltäglich gelebten, Liebe. Genau dieses zweite Zeugnis Jesu, das Jesus gelebt hat, wollten viele, fromme Leistungsträger und Amtsträger nicht hören, vermutlich bis heute nicht. Wer also wirklich zugehört hat, wer also mit dem Herzen hört, der wird ein Liebender zu sein versuchen, angesteckt vom Geheimnis Gottes, das unendliche Liebe bedeutet und das sich danach sehnt, wirklich geliebt und nicht nur benutzt und missbraucht zu werden. Möge uns sein Geist immer mehr zu Menschen wandeln, die Wege der Liebe gehen und so Zeugnis geben vom Geheimnis der Liebe, das uns Jesus so liebevoll nahegebracht hat. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)