(Sir 27, 4–7; 1 Kor 15, 54–58; Lk 6, 39–45)
Liebe Schwestern und Brüder,
wenn das Bildwort von guten und schlechten Bäumen im heutigen Evangelium Menschen meint, dann ist da sicher was Wahres dran. Was an einem Menschen ist, das sieht man nicht zuerst an seinen Worten. Das sieht man am Ende immer an seinen Taten. Aber ist der Mensch, ist das Leben, immer so eindeutig gut oder schlecht? Das ist sicher unser Traum, das ist sicher das redliche Bemühen um unser Selbstbild. Aber lehrt uns der ehrliche Blick auf uns selbst und auf das ganze Leben nicht, dass allem etwas zutiefst Ambivalentes anhaftet? Mir scheint, dass eine der schwersten Übungen bei der Pflege des Selbstbildes die Annahme dieser Erfahrung ist. Niemand ist doch nur gut, auch kein Heiliger. Niemand ist doch nur schlecht, auch kein Sünder. Ich finde in mir immer beide Seiten. Und nur, wenn ich das mit Gottes Hilfe und im Horizont seiner bedingungslosen Liebe akzeptiere, kann ich reifen, wachsen und zu friedlicheren Atmosphären beitragen. Die Verweigerung dieser Annahme führt vermutlich zu jener Richter- und Verurteilerlust, wie wir sie im Alltag öfter erleben. Selbsterkenntnisprozesse sind da kaum zu erkennen, Selbstkritik ist ein Fremdwort, das man am Liebsten aus seinem Wortschatz streichen möchte.
Auch geistlicher Missbrauch hat hier seine Wurzeln, dem nicht nur Wertschätzung und Respekt, sondern vor allem eine gehörige Portion Selbstkritik fehlen. Wie anders kann man die Balkenbetriebsblindheit sonst verstehen und die unbändige Lust, Splitter zu sehen, Balken aus ihnen zu machen und sich selbst für den größten Therapeuten aller Zeiten zu halten? Im Grunde genommen sind auf dem Hintergrund dieses Bildes vom Splitter und Balken eine Verurteilung, ein Richten, eine Vergebungsverweigerung und Unbarmherzigkeit nicht mehr möglich. Nein, es sollen nicht Fehler relativiert, noch Schuld, die es ohne Zweifel gibt, bagatellisiert werden. Wir müssen das benennen und auch ahnden. Aber das muss immer schwerfallen und mit großer Barmherzigkeit geschehen, im übrigen auch und besonders im Blick auf uns selber.
Nein, es gibt nicht hier die guten und dort die bösen Menschen. Aber wir sollten es uns eben nicht zu leicht machen.
Wie also sollen wir nun mit diesen Worten des Evangeliums umgehen? In jedem Fall dürfen wir glauben und darauf vertrauen, dass Gott in seiner Liebe vor allem Barmherzigkeit ist. Uns fällt diese Tugend aus schon erwähnten Gründen nicht besonders leicht. Aber als sie in Gottes Namen zu übende, bringt sie uns im Herzen mehr Frieden und im Miteinander mehr Menschlichkeit. Etwas mehr wohltuende Demut lernt man nicht in schönen Betrachtungen über sie, sondern in der ausgehaltenen und angenommenen Erfahrung eigener Ambivalenz, Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit.
Ich bin froh, dass Gott barmherzig blickt, ohne Wenn und Aber. Ich bin froh und dankbar, wenn ich das in menschlichen Augen erblicken darf. Und ich bin froh und dankbar, wenn ich das auch ein wenig von Jesus lernen darf. Das wünsche ich mir, uns und so vielen Menschen, vor allem Christen, wie möglich. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)