(Sir 15, 15–20; 1 Kor 2, 6–10; Mt 5, 17–37)
Liebe Schwestern und Brüder,
ich stelle mir vor, ich wäre Seelsorger in dem Erdbebengebiet der Türkei und Nordsyrien. Was würde ich denn den Menschen heute predigen wollen, auch im Hinblick auf die heutigen Texte? Irgendwie erschienen mir alle Worte leer, würde ich mich anscheinend mit Themen befassen, die die Menschen gerade überhaupt nicht berühren. Manchmal scheint mir, dass genau dieses Problem auch die Menschen in unseren Kirchen haben und sich ziemlich unverstanden und verlassen fühlen. Müssen sich Menschen angesichts dieser und anderer Katastrophen nicht sowieso fragen, ob sie von Gott verlassen sind? So klingen doch die Texte, die wir heute gehört haben, ziemlich fremd und weit weg, wo es für viele gerade um das nackte Überleben geht. Auch, wenn es uns angesichts der extremen Not einfach nur die Sprache verschlägt und Schweigen wirklich besser wäre als schnelle, klug und gut gemeinte Reden, Deutungen und Erklärungen, so ist das Trotzdemvertrauen in Gottes Liebe und Nähe für viele Quelle von Kraft und Trost.
Sicher gibt es viele Gesetze, Gebote und Verbote, die über das Ziel, das Gott steckt, hinausschießen. Aber wenn der Evangelist Matthäus Jesus sagen lässt, dass er nicht gekommen ist, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen (Mt 5, 17), dann geht es doch um einen bestimmten Geist, der uns erfüllen soll, da geht es nicht zuerst um bloße Handlungen, sondern um grundsätzliche Haltungen. Die Beispiele, die im Evangelium ausgeführt werden, schießen auch über das Ziel hinaus, getreu dem Satz: in der Übertreibung liegt die Anschauung. Aber wenn es Gott und Jesus immer um eine Haltung der Liebe geht, dann kann man nicht hier oder da ein bisschen lieben, da kann man sich nicht hinter bloßer Gesetzeserfüllung verstecken und vielleicht mangelnde Liebe kaschieren. Nein, dann schulden wir eben die Liebe einander immer, wie der hl. Paulus sagt, und das vermutlich nicht wenig.
Eine Gerechtigkeit, die nur rechnet, ist nicht Gottes Gerechtigkeit. Diese bedeutet immer eine absichtslose und bedingungslose Annahme und Liebe, noch bevor wir irgendwelche moralische Entscheidungen treffen, deren Gründe gerade mit dem heutigen Wissen um Psychologie, Genetik, Gehirnforschung etc. so schwer zu entziffern sind.
Aber alle, die Menschen in Not beistehen und dies um der Menschen willen tun, sind Boten Gottes. Sie packen an, wenden Not, so gut es geht, und halten sich mit Erklärungen zurück.
Niemand kann Erdbeben verhindern. Aber wo die Liebe als Haltung die stärkste Kraft ist, da beben menschliche Herzen in Dankbarkeit. Da wird Selbstgerechtigkeit erschüttert, die nur sich selbst groß und andere klein machen muss, da wird man in aller Demut zugeben müssen, dass wir weit entfernt sind von jenem Liebessturm, der von Gott und Jesus ausgeht. Aber wenn uns Gott das Vertrauen schenkt, dass er ersehnt, dann verstehen und leben wir immer mehr, dass es immer nur um die Liebe geht, um nicht mehr und nicht weniger, im großen, wie im ganz kleinen. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)