(Ex 22, 20–26; 1 Thess 1, 5c-10; Mt 22, 34–40)
Liebe Schwestern und Brüder,
hoffentlich verdrehen manche nicht ihre Augen, weil ich schon wieder über die Liebe predigen muss. Das habe ich ja schon am vorigen Sonntag der Weltmission mit der hl. Therese von Lisieux ausgiebig getan.
Dass Gott ein großes Interesse am liebevollen und verantwortungsvollen Miteinander hat, das zieht sich schon wie ein roter Faden durch das 1. Testament. Ein Beispiel dafür war heute die Lesung aus dem Buch Èxodus. Die Propheten haben vor allem immer wieder scharfe Sozialkritik geübt und nicht etwa bloße Gesetzeserfüllung oder Frömmigkeit eingefordert. Dabei erinnerten sie immer wieder an jene konkrete Liebe, die Gott erwiesen hat, gerade auch in der Befreiungserfahrung aus der Knechtschaft Ägyptens. Diese seine Liebe verdient es, mit Liebe erwidert zu werden. Was das wiederum konkret heißen kann, wird in der 1. Lesung aus dem Buch Èxodus sehr deutlich und gilt bis heute.
Im Evangelium erfindet Jesus das Liebesgebot nicht neu. Denn er fasst nur zusammen, was, entgegen aller Vorurteile, die man im Hinblick auf das 1. Testament hat, die Mitte alttestamentlichen Glaubens ist. Beide Gebote, also die Gottes- und die Nächstenliebe, finden wir so im 1. Testament. Dabei scheint es leicht zu sein, das erste und wichtigste Gebot zu halten: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken“ (Mt 22,37). Aber ist es das wirklich?
Wir alle tragen ganz bestimmte Gottesbilder in uns. Das geht ja auch nicht anders. Wie will man denn lieben, wovon man gar keine Vorstellung hat? Bildlos lieben, ist in jedem Fall auch eine Gabe Gottes, die scheinbar nicht viele haben. Aber eigentlich sehnt sich Gott wohl und jeder Mensch danach, nicht nur als Bild, sondern als geheimnisvolle Wirklichkeit geliebt zu werden.
Als erstes sollten wir also schauen, ob wir wenigstens ein Gottesbild in uns tragen, das man wirklich lieben kann. Da mögen manche Glaubenswächter gleich wieder Angst bekommen und sich fragen, wo denn da die Gottesfurcht bleibt, so wie wir sie in der Regel liturgisch zum Ausdruck bringen. Aber auch die Gottesfurcht ist keine Angst vor Gott, sondern die dankbare Ehrfurcht vor seiner oft so unbegreiflichen Liebe.
Normalerweise sollten Herz, Seele und Denken eine Einheit bilden, was sie aber oft nicht dürfen. Wir spalten uns gerne auf und Unangenehmes ab, um unser Leben und tatsächliches Verhalten einigermaßen erklären und einordnen zu können. Auch das ist verständlich. Doch Gott möchte uns ganz, nicht nur unser Gefühl, nicht nur unsere schönen Gedanken über ihn, nicht nur ein Teil unseres seelischen Universums, sondern ganz und gar. Das wollen natürlich viele nicht und wissen nicht, wie sie das anstellen sollen. Darum ist es ja auch viel leichter, religiöse Übungen zu pflegen, als sich auf die Mühsal der Liebe einzulassen.
Letztlich will doch auch jeder Mensch so ganzheitlich geliebt werden. Nicht nur in einer kurzzeitigen Gefühlswallung, nicht nur in schönen Gedanken, nicht nur teilweise, sondern eben ganz. Darum ist für Jesus das zweite Gebot der Nächstenliebe genauso wichtig wie das erste der Gottesliebe. Denn genau da sieht und spürt man, welche Gottesliebe, welche Gottesvorstellung, wir in uns tragen und uns geschenkt ist.
Eine lebenslange Herausforderung bleibt das allemal. Dazu möge uns die Kraft des Heiligen Geistes geschenkt sein und immer wieder ehrliche Selbsterkenntnis, die nicht vor dem Anspruch täglicher und konkreter Liebe in religiösen Aktionismus und bloßes Moralisieren flieht. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)