(Jes 63, 16b-17.19b.64, 3–7; 1 Kor 1, 3–9; Mk 13, 33–37)
Liebe Schwestern und Brüder,
die Menschen aller Zeiten kennen Erfahrungen von Glück und Freude, aber auch von Unglück, Schmerz und Leid. Und es wäre schön, um Gottes willen!, wenn wir Gott nicht nur bei dem zuletzt Genannten bemühen. Denn dann besteht die Gefahr, dass wir Gott nicht genauso intensiv mit Glück und Freude verbinden. Vielleicht war und ist gerade auch die Kirche immer wieder dieser Gefahr erlegen.
Aber auch jene Erfahrung muss freilich zugelassen und darf nicht verdrängt werden, dass man sich manchmal gerade auch in schwierigen Zeiten von Gott verlassen fühlt. Davon spricht heute auch die 1. Lesung aus dem Buch Jesaja. Gerade Christen, die gerne so tun, als wäre mit der Auferstehung Jesu alles gesagt und Enttäuschung, Angst und Zweifel hinsichtlich der Liebe Gottes in der Not geradezu eine Sünde, sie neigen dazu, diese Glaubensnot zu verdrängen, sie nicht zuzulassen, sie nicht wahrhaben zu wollen und das Theater einer unangefochtenen Hallelujamentalität zu praktizieren. Hier meint übrigens das Wachsamsein des Evangeliums, dass wir genau das eben nicht tun und nüchtern bleiben und uns vor jeglicher Hysterie hüten. Es hat ja keinen Sinn, sich selbst, andere und Gott betrügen zu wollen, weil Glaube und Leben anders verlaufen als gedacht und behauptet. Wer praktizierte Ehrlichkeit und Demut nachlesen möchte, kann das mit der 1. Lesung von heute tun.
Da heißt es: „Wie ein Unreiner sind wir alle geworden, unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Kleid. Wie Laub sind wir alle verwelkt, unsere Schuld trägt uns fort wie der Wind.“(Jes 64,5)
Das habe ich in einem Hirtenwort noch nie gelesen und gehört.
Jesaja erinnert in diesem Text daran, dass Gott doch unser Vater ist, lange bevor Jesus bevorzugt diese Anrede für Gott verwendet. Er will sagen: „Gott, du bist doch unsere Familie! Du kannst uns doch jetzt nicht hängen lassen!“ Schon das Aussprechen dieser inneren Not ist ein therapeutischer Ansatz, um mit einer Krise umzugehen.
Aber jetzt kommt zum Ende dieser Gedanken noch ein positiver hinzu. Denn es ist ja ein Unterschied, ob ich einen Richter oder Moralapostel erwarte oder einen Geliebten. Gerade auch die Erwartung von etwas Schönem kann mich wach sein lassen und nicht nur die Angst, etwas zu verpassen oder zu verfehlen.
Vielleicht wartet ja auch Gott darauf, dass wir ein angstbesetztes Gottesbild gegen ein heilsames und heilendes eintauschen. Denn nicht nur wir, auch Gott feiert Advent und wartet auf unsere Liebe, unser Vertrauen und unseren Dank. „Dank“ für Glück, Freude, Liebe und Freundschaft. „Vertrauen“ aber gerade dann, wenn es uns das Leben schwer macht.
Wenn gute Freunde uns in der Not nicht verlassen, wie wenig erst Gott selber?! Genau dieses Vertrauen möge uns zur Erfahrung werden und das feiern wir heute am 1. Advent. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)