(1 Sam 2, 1–2.4–8; Offb 21, 1–5a; Lk 1, 39–56)
Liebe Schwestern und Brüder,
viele Glaubenssätze lassen sich aus der Heiligen Schrift herleiten. Das gilt für das heutige Hochfest nicht. Da sucht man vergeblich. Am Beispiel Mariens wird für uns alle festgehalten, was unsere Hoffnung ist: nämlich die Vollendung des irdischen Lebens durch und bei Gott. Es ist die Überzeugung, dass alles, wirklich alles, was unser irdisches Leben ausmacht, in Gott schon jetzt gut aufgehoben und im Tod in Gänze an sein Herz genommen ist. Nicht nur eine vom Leib befreite, ewige Seele soll ihr Ziel erreichen, wie es sich vielleicht der griechische Philosoph Platon vorgestellt hatte, nein, der ganze Mensch in seiner ganzen, untrennbaren, leibseelischen Verfasstheit soll vollendet werden. Dazu gehört seine ganze, irdische Geschichte, alle Freude, alles Leid, alle (unerfüllte) Sehnsucht und alle Enttäuschung, alles Gelungene und alles Verletzte, alle Liebe und alle schuldiggebliebene, unsere Tränen der Trauer, wie der Freude, unser Ringen und Kämpfen, unsere Siege und Niederlagen. Von Gott her gibt es eine unendliche Wertschätzung unserer materiellen Verfasstheit, die oft unsere innere zum Ausdruck bringt. Gott hat in Jesus nicht widerwillig „Fleisch angenommen“, er hat das Menschsein mit Leib und Seele geheiligt. Seine Menschwerdung, die wir Weihnachten feiern, verbietet es, die leiblich, materiellen Dimensionen unseres Lebens zugunsten einer einsamen, ewigen Seele zu verachten. Wir haben lange genug so getan, als sei das leiblich, materielle nur nebensächlich. Der Klimawandel und seine Folgen sind nur eine Seite der Geringschätzung des Leiblichen und der Sichtbarmachung eines Geistes, dem nichts mehr heilig ist und dem es einfach nicht gelingt, sich demütig in die höchst komplexe Verwobenheit allen Seins einzufügen.
Wenn es Gott am Ende nur um leiblose Geistigkeit ginge, hätte Moses das Volk nicht aus Ägypten befreien müssen, hätten Propheten nicht gegen Ungerechtigkeit protestieren müssen, hätte Jesus niemanden heilen brauchen. Aber gerade die leibseelischen Heilungen waren für Jesus Zeichen für Gottes Nähe und seinen Willen, nicht nur die Seele, sondern auch den Leib zu retten.
Aber unsere Augen sehen doch am Ende, was mit unserer Leiblichkeit passiert, werden wir jetzt vielleicht einwenden. Das ist richtig, aber unsere Augen sehen nie alles, nie die ganze Wahrheit, nie die ganze Komplexität des Lebens. Wir sollten doch ein Leben lang Vertrauen lernen, nicht nur Gott, sondern auch uns selbst und das Leben größer glauben, als es uns jemals einsichtig werden könnte, was immer komplett einseitig wäre.
Ich will jedenfalls daran glauben, dass das Leben größer als meine Einsicht ist, als alles Verständliche und Erklärbare. Ich glaube daran, dass es einen neuen Himmel und eine neue Erde geben wird, auch wenn ich nicht weiß, wie das aussehen soll.
Das alles „sehe“ ich heute, wenn ich mich darüber freue, dass unsere Schwester Maria mit Leib und Seele in Gottes Himmel vollendet wurde. Ich verstehe es nicht, aber es ist meine Hoffnung für mich, für uns und die ganze Schöpfung. Amen.
(P. Thomas Röhr OCT)